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©2014 KK-7

Der Arme und der Baum.

(Eine Kindergeschichte)

Es war einmal ein junger Mann, der war sehr arm. Das Einzige,
was er besaß, war ein winziges Stück Land. Darauf wuchs ein
einziger kleiner Baum. Der junge Mann hielt seinen Baum für den
schönsten weit und breit und war sehr stolz auf ihn, denn es war
ein besonderer Baum. Wenn der junge Mann Hunger oder Durst
bekam, brauchte er nur nach den großen, saftigen Früchten zu
greifen, die das ganze Jahr über an seinem Baum hingen. Brannte
die Sonne einmal heiß auf das Land, bot der Baum Schatten. Der
junge Mann musste niemals Not leiden und kaum arbeiten, denn
alles, was er zum Leben brauchte, gab ihm sein Baum, der auf
dem kleinen Stück Land wuchs. So lebte der junge Mann lange
Zeit glücklich und zufrieden.

Als einige Jahre ins Land gegangen waren, gab es plötzlich eine
starke Dürreperiode. Überall verdorrten die Wiesen. Der kleine
Baum, der auf dem Land des jungen Mannes wuchs, spürte die
Trockenheit in seinen Wurzelspitzen. So reckte er dem jungen
Mann die Äste entgegen, um ihm zu zeigen, dass er nicht genug
Wasser bekomme. Der junge Mann aber bemerkte die Verände-
rung seines Baumes nicht. Wie ehedem hingen die Äste voll der
herrlichsten Früchte, an denen er sich laben konnte. Als der kleine
Baum merkte, dass der Mann seinen Wassermangel übersah,
wurde er ängstlich. Er wusste, dass er seinem Freund nicht mehr
lange Früchte bieten konnte, da er keine Nahrung mehr bekam
und befürchtete, selbst den Nektar aus seinen Früchten saugen
zu müssen, um bei Kräften zu bleiben.

Nach einer Weile bemerkte der junge Mann, dass der Baum sich
verändert hatte. Seine Früchte waren holzig geworden und
weniger wohlschmeckend als früher. "Er wird überladen sein",
dachte der junge Mann und begann damit, die gesamten Früchte
abzuernten. Wusste er doch, dass der Baum sofort neue Früchte
tragen würde! Der kleine Baum aber seufzte. Wo sollte er das
Wasser für neue Früchte hernehmen? Er begann sich stark zu
grämen, da er nicht wusste, wie er sich und seinen Freund weiter-
hin ernähren sollte. "Ich brauche Wasser", rief der Baum dem
jungen Mann durch seine Äste entgegen. Der aber hörte nur das
Knarren des spröden Holzes im Wind.

Endlich sah der kleine Baum eine Lösung. Er würde seine Wurzeln
eine nach der anderen aus der vertrockneten Erde ziehen, um sie
dem jungen Mann zu zeigen und ihn so auf seine Not aufmerksam
zu machen. Dabei hoffte er auch, aus der Luft mehr Feuchtigkeit
ziehen zu können als aus dem verdorrten Grund. Kurze Zeit
darauf entdeckte der junge Mann verwundert, dass einige Wurzeln
des Baumes auf der Erdoberfläche lagen. "Diesem Wildwuchs
muss man abhelfen!", dachte er bei sich und holte eine Axt, um
dem Baum die Luftwurzeln abzuschlagen. Vergebens rief der
kleine Baum nach Wasser.

Der junge Mann, der nicht verstand, warum der kleine Baum ihm
seit geraumer Zeit keine neuen Früchte lieferte, vermutete die
Ursache dafür in den merkwürdigen Wachstumsstörungen des
Baumes. So schlug er Tag für Tag die neu aus der Erde ragenden
Wurzelenden ab. "Ich brauche Wasser!", schrie der Baum, der
nun schon fast all seine Wurzelenden an die Oberfläche gekehrt
hatte und immer kraftloser wurde. Doch der junge Mann hörte ihn
nicht. Längst war er nicht mehr stolz auf seinen Baum, der ihm
keine rechte Freude mehr bereitete. Er beachtete ihn kaum noch
und wurde, da er sich jetzt selbst erarbeiten musste, was er zum
Leben brauchte, immer unzufriedener.

Die Trockenzeit währte nun schon viele Wochen, und der kleine
Baum fühlte sich inzwischen sehr matt. Nachdem der junge Mann
fast sein gesamtes Wurzelwerk gebrochen hatte, fand er kaum
noch Halt in der verdorrten Erde, die ihm über so viele Jahre als
Lebensraum gedient hatte. So verging die Zeit, und der kleine
Baum, der mittlerweile schon sehr trockene Äste hatte, merkte,
dass er sich langsam und stetig zur Seite zu neigen begann.
"Ich brauche Wasser", stöhnte der Baum, doch der junge Mann
hörte ihn nicht. Schon lange hatte er seinen Baum nicht mehr
aufgesucht. Nur ab und zu war er noch auf das kleine Stück Land
gekommen, um nachzusehen, ob der Baum endlich wieder neue
Früchte trug. Jedes Mal musste er mit leeren Händen umkehren.

Als der junge Mann es wieder einmal an der Zeit befand, nach der
Ernte zu sehen, bemerkte er schon von Weitem, dass der kleine
Baum nicht mehr wie früher fröhlich seine Äste in den Himmel
streckte, sondern in sich zusammengesunken auf dem Boden zu
hocken schien. Bei seinem Stück Land angelangt, erschrak der
junge Mann. Der kleine Baum lag dünn und kraftlos auf der Seite.
Nur ein paar eingetrocknete Wurzelfäden deuteten noch darauf
hin, dass er einmal eine Verbindung zum Boden gehabt hatte.
Der junge Mann befühlte die aufgerissene Erde um den dünnen
Stamm und wurde plötzlich ihrer Trockenheit gewahr. "Der Baum
braucht Wasser!", dachte er und machte sich sofort auf den Weg,
es herbeizuschaffen. Er grub ein tiefes Loch, benetzte die Erde
und setzte den kleinen Baum wieder aufrecht hinein. Dann begann
er damit, die restliche feuchte Erde um den dünnen Stamm fest-
zuklopfen.

"Nun kannst du wieder Früchte tragen!", sagte der junge Mann
fröhlich zu seinem Baum. Doch der kleine Baum hörte ihn nicht
mehr, denn er war längst vertrocknet.

 

©1986 A.Kaehler