[geistes]:bits scripts

©2014 KK-7

Tagebuch.

(Berlin-Moabit 93)

Morgens begegne ich in der Küche meinem Spiegelbild und
nenne es Barbara. Barbara bohrt in der Nase und versucht, in
Rekordgeschwindigkeit eine Kanne Tee zu leeren. In Wirklichkeit
will sie sofort wieder zurück ins Bett, doch damit wäre das
morgenfrohe Image zerstört, das sie gerade noch vehement
zu demonstrieren wusste. (Die Eindrücke, die wir hinterlassen,
sind der nachhaltigste Schutz vorm Erkanntwerden.)
Toll inszeniert, aber was nun...? Die grelle Schwere der meter-
langen orangefarbenen Stoffbahnen vor den Fenstern legt
sich auf die Lider. Überall lähmende Stille. Nur der alternde
Kühlschrank protestiert mit bösartigem Sirren vor sich hin...

"Fühl dich ganz wie zuhause", murmelt D., dreht sich wieder
um und hat keine Ahnung, was er mit seinen Worten auslöst.
Zuerst setze ich seinen Küchenfußboden unter Tee. Dann ist
exzessives Frühstück angesagt. Sesam-Müsli (selbst gemixt).
Perfekt. Überhaupt ist D.s gesamte Küche vollgestopft mit
super leckeren Lebensverschönerungszutaten aus'm Ökoladen,
die offensichtlich zum Standardinventar gehören. Wieder mal
wird mir bewusst, was ich mit mir, meinem Körper, meinem
Leben gemacht hab...

"Wut, Witz, Widerstand", brüllt D.s Wand. Wichtige Worte, wa?
Der Kühlschrank fordert 'Banker' auf, "nicht unsere Schulden",
sondern ihre Tage zu zählen. Ob er jemals von entsprechender
Stelle auf'm Sperrmüllhaufen wahrgenommen wird, ist fraglich...
"Nur tote Fische schwimmen immer mit dem Strom" schließlich
ziert in großen farbigen Lettern, plakativ und sinnentleert, die
Wohnzimmerwand der ansonsten ziemlich genial, wenn auch
ohne Dusche konzipierten Wohnung und bot gleich nach meiner
Ankunft Stoff für ein Lied.

: hey bepisst die parolen auf euern mauern/
lasst die maden eure poster fressen/
(falls die ihn runterkriegen, den konsumdreck)/
gekaufte gedanken/
gekaufter joke/
gekaufte seele/
und die fetischkotze in euren regalen (neben 40 sorten
hundefraß, 'Bitte zimmerwarm servieren!')/
gekaufte knebel/
une eure scheiße die einzig kreative tat am tag/
ihr zieht euch alles rein/
auch bequerel als brotaufstrich/
mit bulimie schmeckts doppelt gut —


(Alexanderstraße, eine Woche später)

Erwachte sehr früh, mit diesem unbestimmten Glücksgefühl
im Bauch: ein strahlend schöner Morgen, Wintersonne!, und
beim Blick in den Spiegel, kurz darauf: eine Frau, die ich sehr
mochte. (Wenn ich glücklich bin, bin ich schön — aber das lässt
sich in jeder dümmlichen Kosmetikbroschüre nachlesen.)
Seltene innere Ruhe und zugleich dieses geile Gefühl, vor Ideen
und Energie überzuschäumen... Selbstverliebtheit, Sehnsucht,
dann die Erinnerung an einen Traum. Ich träume oft und meist
wild — dieser Traum aber ist ein ganz kostbarer, jedes Mal von
Neuem unglaublich tief und schön: Verwurzelung.

: Ödland.
Ödland ist ein weiter Landstrich gleich hinter dem verwilderten
Garten meines Elternhauses, hinter dem alten Dorfschulhof.
Dort befindet sich inzwischen eine Neubausiedlung mit einem
eigenen Straßensystem, und auch damals hat es keinen solchen
Landstrich gegeben, aber ich kenne ihn; er ähnelt dem Death
Valley Kaliforniens und hat die gleiche Ruhe — ist menschenleer,
aber nicht unbelebt.

Die Wanderung durch Ödland erfordert viel Zeit und scheint
endlos zu sein, da keine Grenzen abzusehen sind; es ist ein Ort
der denkbar größten Weite. In der Erinnerung bleiben einzelne
Bilder haften: Sträucher, Steine, rotorange gefärbter Sand der
Ebene — und nie war ich auf dieser Wanderung allein; es scheint,
ich konnte überhaupt erst durch die Anwesenheit eines Anderen
über die Grenzen unseres alten Gartens hinaus gelangen. Das
Gefühl absoluten Vertrauens begleitete uns, ein Wissen um das
Zusammensein ohne einander anzusehen; wer war es, damals?
In der Erinnerung gibt es kein Gesicht...

Die bleibende Gewissheit, von Neuem dort gewesen zu sein,
überlagert nun bald das kurz Festhaltbare des Bildes, und jetzt
steigt die Katze auf meine Schenkel, und du singst im Bad,
während für dich ungewöhnliche Mengen Wasser strömen;
draußen lärmen schon die Müllwagen in der Morgensonne —
höchste Zeit, hier einen Schluss zu finden und diesen geilen
Tag zu genießen —

: bilder
meine unbändige sehnsucht baut träume auf

: dunkelheit
spazieren
am fluss entlang
\und immer mit dir\
allein unerreichbar
und in der ferne lichterstimmen

: der spiegelsee
eisgrau und klar
kein horizont
und ich bin nackt und schwimme
\und bin bei dir\
die sonne verlischt im tag

: die weite landstraße
nachtflirrender sand
es brennt
die zeit zerbirst
ich tauche in deine sanftmut
zergehe in weichem fell

: der wilde wind
und salz und schaum
verwehter schnee
ich renne
möchte schreien
\und spüre dich in mir\

: ganz früher tag
ein vogel singt
von wald und moosgeruch
dem atemhauch amorpher gespinste
\ich träume dich
noch\

 

©1993 A.Kaehler